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Rheas (und Kalinoras) Familiengeschichte

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Rhea erblickte an einem stürmischen Herbsttag auf dem Hof ihrer Eltern in Süderstade das Licht der Welt.
  Ihr Vater, Joran, war ein alteingesessener Bauer, dessen Land nahe des Flusses lag. Das kleine Stück Land, das seit Generationen von ihrer Familie gepachtet und bewirtschaftet wurde, war viel zu lehmig, um den sonst weit verbreiteten Apfelbäumen Nahrung bieten zu können, und so hatte ihr Ur-Grossvater aus der Not eine Tugend gemacht. Er hatte Weiden angepflanzt – und begonnen, Körbe für die Apfelernte zu flechten.

Sprach man von der Familie einst als "Korbflechter", wurden sie bald als "Weidflecht" bekannt, da ihr Grossvater neben Körben auch Wiegen, Stühle und andere Möbel zu flechten begann, aber auch Reusen für den Fischfang, Vogelkäfige, Puppen und anderes Spielzeug. Joran führte Hof und Handwerk seines Vaters weiter und Rheas Mutter, Dana, eine Weberin in den Diensten der Schneider des Hügellandes, setzte ihre Fähigkeiten im Umgang mit Stoffen so kreativ in die Flechtarbeiten ihres Mannes um, dass die beiden sich letztlich einen eigenen, kleinen Erwerbszweig aufbauen konnten, mit dem Ziel, den "Weidflecht-Hof" und das Land irgendwann von Bauer Getz abkaufen zu können. Ihr Leben war einfach und sie waren zufrieden, doch da ihnen kein Sohn als Erbe geschenkt wurde, wollten sie ihren beiden Töchtern ein "besseres" Leben ermöglichen. Für eine angemessene Schulbildung reichte es zumindest bisher.

Für Kalinora, Rheas ältere Schwester, hatten die Eltern grosse Hoffnungen, als eine durchreisende Priesterin ihr Potential entdeckte und sie aus der Web-Stube ihrer Mutter hinaus mit sich nach Sturmwind nahm, wo ihr der Orden auch eine Ausbildung als Schneiderin anerbot. Wie wenig glücklich Kalinora als Novizin war, vertraute sie nur ihrer Schwester und ihrem Tagebuch an, und selbst als sie ihre wahre Bestimmung als Magierin gefunden hatte, verzweigten sich ihre Wege wieder und wieder. Selbst aus ihrem eigenen Geschäft, mit dem sie sich einen grossen Traum erfüllte, wurde sie schliesslich durch die Kirin Tor herausgerissen, nachdem sie für Kundenaufträge nach Nordend hatte reisen müssen.

Rhea dagegen half schon früh und gerne ihrem Vater bei der Weidenpflege mit, half, die Weiden zu schneiden, zu schälen, zu sieden, sie zu splitten, das Mark heraus zu schälen, sie zum Trocknen zusammen zu binden und die für die Arbeit eingelegten Weidenruten immer mit genügend Wasser bedeckt zu halten. Die Arbeit machte ihr Spass, sie war abwechslungsreich, und – sie fand draussen statt.

Die Briefe ihrer Schwester, in denen sie sich nicht selten über das Herumgezerre durch andere beklagte, liessen in Rhea den starken Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit erstarken.
Sie war sowieso das lebhaftere, unternehmungslustigere Kind, neugierig und an allem interessiert. Am liebsten tobte sie draussen herum, kletterte auf Bäume, um Vogelnester zu plündern, suchte in den Felsen der Küste nach Höhlen und Verstecken. Keine Herausforderung war ihr zu gross, und so kam es auch, dass sie sich schon mit 11 der Mutprobe der Bande unterzog…
Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei. (Nikos Kazantzakis)
Beitrag #1175 erstellt am: / Zuletzt geändert am:

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Die Mutprobe

An der Küste vor Süderstade wurden oft Murlocs gesehen. Die kleinen, vorwitzigen Biester stellten für die Dorfwachen kein Problem dar, doch für die Kinder waren sie eine grosse Gefahr. Deswegen wurde diesen auch untersagt, in Küstennähe alleine zu spielen. Dennoch gab es, wie in jeder Generation, mehrere Jugendbanden, die mehr oder weniger ernst um Territorien, Höhlen, Verstecke, Baumhäuser und anderes kämpften. Und jede hatte so ihr eigenes Aufnahmeritual, das immer mit einer Mutprobe verbunden war. Die angesehenste Gruppe, die auch aus den ältesten Jugendlichen und hauptsächlich Jungs bestand, hatte sich dazu etwas Spezielles einfallen lassen: Wer dazugehören wollte, musste bei Nacht, alleine, die Bucht an der breitesten Seite durchschwimmen, hin und zurück.


Rhea atmete ein paar Mal langsam und tief durch und richtete ihren Blick dann auf das gegenüberliegende Ufer. Lautlos glitt sie ins Wasser und schwamm ein paar Meter, dann tauchte sie. Das Schlagen der Wellen am Strand wurde zu einem beruhigenden, gedämpften Murmeln, das sie sanft umfing. Sie kannte die Länge des Schilfrohres, durch das sie ruhig und gleichmässig atmete. Unzählige Male hatte sie das geübt, behielt die heute nur mondbeschienene Wasseroberfläche im Auge und schwamm zügig voran, ohne hektisch zu werden.

Unerwartet trat ein Schatten in ihr Sichtfeld, glitt vor ihr vorüber, auf die Küste zu. Sie blickte dem Fisch nicht nach, sondern behielt ihre gleichmässigen Bewegungen bei. Bald musste sie die Hälfte geschafft haben. Der Mond stand günstig, sie schien direkt auf ihn zu zu schwimmen, was ihr die Orientierung sehr erleichterte.

Plötzlich veränderte sich ihre Sicht, das Wasser wurde trübe, und mit einem Mal spürte sie eine feine, streifende Berührung an ihrem rechten Fuss. Erschrocken verlor sie den Rhythmus ihrer Schwimmzüge, hielt inne und richtete sich leicht auf. Ihre Füsse berührten den Boden ! Sie war am Ufer angekommen !

Unbeholfen ging sie ein paar Schritte vorwärts, halb schwimmend, halb gehend, nahm das Schilfrohr aus dem Mund und streckte den Kopf bis zur Oberlippe über die Wasseroberfläche. Jetzt wurde es gefährlich ! Doch Murlocs schliefen nachts. Oder ?! Unsicher blickte sich die Elfjährige um und kontrollierte das Ufer. Es lag im Mondschatten, doch nichts schien sich zu bewegen. Langsam trat sie ans Ufer. Ein kalter Wind liess sie frösteln, doch noch war ihre Aufgabe nicht erledigt.

Rasch und geduckt überwand sie den Grasstreifen und lehnte das Schilfrohr an den Felsen. Dann begann sie den Aufstieg. Sie hatte vor ein paar Tagen eine Nische entdeckt, die sich etwa auf halber Höhe in der Felswand befand. Dort würde sie das Zeichen ihrer Anwesenheit hinterlassen, zum Beweis, dass sie es geschafft hatte. Sie hielt sich mit einer Hand in einer Spalte fest, die blossen Füsse sicher auf zwei Vorsprüngen platziert, und zog den mit einem roten Band umflochtenen Weidenstern unter ihrer Weste hervor. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Stern in der Nische aufstellte und dieser leicht nach hinten an den Felsen kippte. Die Muschel, die das Flechtwerk in seiner Mitte hielt, schimmerte schwach im Licht der Sterne. Der Platz war perfekt !

Rasch kletterte sie wieder hinunter. Nun wurde es doch recht kühl, und ihre nassen Haare klebten unangenehm im Nacken und auf den Schultern.
Kaum berührte sie wieder den Boden, kroch kurz kaltes Entsetzen in ihr hoch. Das Schilfrohr war weg ! Es müsste doch…. Ah, nein. Der Wind hatte es nur umgepustet. Rasch griff sie danach und warf noch einen Blick hinauf in die Felswand. Der Weidenstern stand an Ort und Stelle. Perfekt.

Mit einem zufriedenen Lächeln wandte sie sich der Küste zu – und erstarrte. Das Lächeln gefror auf ihrem Gesicht. Ein bekanntes, unverständliches Geräusch näherte sich von links, von der Bucht vor Süderstade… "Ahumerglrglibeahbläarglrgl"

Rhea handelte, ohne zu denken. Geduckt eilte sie im Schatten der Felswand zum Ufer, der Umriss ihrer Gestalt war kaum grösser, als ein Murloc. Ohne zu zögern glitt sie in das kalte Wasser zurück, atmete derweil tief ein, tauchte und schwamm rasch dem Grund entlang tiefer, weiter in die Bucht hinaus. Das Schilfrohr hielt sie in ihrer linken Hand. Es behinderte sie beim Schwimmen, doch noch wagte sie es nicht, es einzusetzen. Zu leicht war es auf der heute fast ruhigen Wasseroberfläche im Licht des Mondes zu entdecken… Sie tauchte, bis sie ausatmen musste. Erst dann wandte sie sich nach oben und stiess wieder mit dem Kopf bis zur Oberlippe durch die Wasseroberfläche. Da ! Links von ihr bewegten sich zwei Murlocs dem Ufer entlang – und verschwanden watschelnd hinter dem Felskamm. Waren noch mehr unterwegs ?! Forschend liess das Mädchen ihren Blick dem Ufer entlang bis zum Schiffssteg zurück gleiten, doch sie konnte keine Bewegung mehr ausmachen.

Als sie das Schilfrohr an den Mund setzte, um es durch zu blasen und vom Wasser zu befreien, zitterten ihre Hände. Ob von der Kälte oder vom Schrecken hätte sie nicht zu sagen vermocht, wenn jemand sie in diesem Augenblick gefragt hätte. Doch sie war alleine, und sie beendete, was sie begonnen hatte.
Der Rückweg schien länger. Vielleicht, weil sie weiter hinaus geschwommen war, vielleicht, weil der Mond nun in ihrem Rücken hinter dem Horizont versank und die Dunkelheit die Distanz verzerrte. Vielleicht aber auch nur, weil sie durch die Anstrengung und Anspannung müde und dadurch langsamer wurde. Jedenfalls schien es ihr ewig zu dauern, bis sie das sichere Ufer wieder erreichte.

So schnell sie ihre klammen Beine trugen, rannte sie nach Hause. Sie hängte ihre Kleidung zum Trocknen neben den noch etwas Wärme abstrahlenden Ofen, schlich sich in das Schlafzimmer – Kalinora schlief tief und fest den Schlaf der Gerechten, ebenso, wie ihre Eltern – und schlüpfte unter die Decke. Nun holte die Kälte sie doch noch ein. Zitternd kuschelte sie sich in ihre Decke und rückte etwas näher an ihre Schwester heran.
Doch trotz aller Müdigkeit konnte sie lange nicht einschlafen. Sie lauschte dem Rauschen der Wellen an der Küste, dem gleichmässigen Atem ihrer Familie, und ein breites, zufriedenes Grinsen zierte ihr Gesicht. Sie hatte es geschafft ! Morgen Nachmittag würde sie der Bande ihren Erfolg präsentieren !
Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei. (Nikos Kazantzakis)
Beitrag #1176 erstellt am: / Zuletzt geändert am:

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Doch der nächste Tag verlief anders, als erwartet.

Gegen Morgen kam heftiger Regen auf, und die Familie setzte sich nach dem Frühstück um den Ofen, um ihrem Handwerk nach zu gehen, bis der Regen etwas nachliesse.  Rhea war unkonzentriert, nieste häufig und schliesslich begann sie zu fiebern... Ihre Mutter steckte sie ins Bett zurück, doch trotz mehrmaligem Nachfragen, auf jede Art und Weise, erzählte Rhea nichts von ihrem nächtlichen Ausflug. Sie lag einige Tage mit Fieber im Bett, kurierte eine heftige Erkältung aus und durfte erst vier Tage später das Haus wieder verlassen. Länger schaffte ihre Mutter es nicht, sie drinnen zu behalten.

Rheas erster Weg führte sie an die Küste. Sie warf einen Blick zu der gegenüberliegenden Felswand, forschte nach der Nische und sah – nichts ! Der Stern war verschwunden ! Doch wo andere vielleicht enttäuscht oder wütend gewesen wären, hielt sich Rhea am Wissen um ihrem Erfolg fest. Entschlossen suchte sie den Anführer der Bande auf und meldete ihm ihre bestandene Mutprobe. Doch Darren Malve lachte sie aus.

"Du bist gut im Geschichten erfinden, Rhea Weidflecht. Doch um bei uns Mitglied zu werden, musst du deinen Mut beweisen. Ich sehe keinen Weidenstern am Felsen, und schon gar keinen mit einem roten Band. Werde erst Mal erwachsen, dann kannst du es ja vielleicht mal versuchen. Aber glaube mir, Mädchen tun sich schwer daran. Das ist ja auch der Sinn der Mutprobe. Hahahaha..."

In genau diesem Moment wusste Rhea, dass diese Bande zwar die angesehenste sein mochte, doch in ihren Augen  verlor sie jeglichen Wert. Sie würde die Mutprobe kein zweites Mal machen. Nicht, weil sie sich fürchtete. Sie hatte sie bestanden, und würde es wieder schaffen. Aber die Bande war es nicht Wert. Nicht, wenn ihr Anführer nicht mal auf die Idee kam, ihre Behauptung zu kontrollieren. Sicherlich war der Stern noch irgendwo dort. Vielleicht nicht mehr in der Nische, vielleicht sonst irgendwo im Felsen. Wer weiss, vielleicht sogar als Trophäe in einer Murloc-Hütte !

Dieser Tag war der Tag, an dem Rhea begann, die Strukturen und Hintergründe der gesellschaftlichen Schichten zu hinterfragen, sie auszuleuchten und nach ihren eigenen Massstäben einzuteilen.

Je älter sie wurde, und je länger sie dieser Bewertung nachging, desto grösser wurden die Unterschiede zu den gängigen Modellen. Rhea bewertete die Menschen nach ihrem Sein, nicht nach ihrem Haben, noch nicht mal nach ihrem Können. Stellung und Fachwissen wurden in ihren Augen zweitrangig, aber wie jemand damit umging, das interessierte sie…
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Beitrag #1177 erstellt am: / Zuletzt geändert am:

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Drei Jahre später

Das erste Handelsschiff nach einer der vielen wochenlangen, wetterbedingten Pausen tauchte am Horizont auf – und nahm Kurs auf den Steg von Süderstade. Dies war wie immer ein grosses Ereignis für den kleinen Ort, und sofort begann hektische Betriebsamkeit.

Alles war auf den Beinen, überall wurde geputzt und gereinigt und auf Hochglanz gebracht, egal, ob es Robert Aebischers hervorragende Rüstungen waren oder die Gläser der Taverne.
Sarah Lichthof, die Gemischtwarenhändlerin, ordnete ihre Kisten und Säcke, während Micha Yance die Inventur-Listen suchte, um die schwindenden Posten seiner Handwerkswaren wieder aufzufüllen.
 
Am meisten Betriebsamkeit aber zeigte Gastwirt Anderson. Er begleitete seinen Küchenchef Jessen höchstpersönlich zum Einkauf bei Metzger Bront Kaltgleve und vergewisserte sich, dass sie nur das beste Fleisch erwarben.  Zurück in der Taverne bläute er seinem Barkeeper Kelly erneut eindringlich ein, dass die Getränke nur für die Gäste gedacht sind und er heute gefälligst nüchtern zu bleiben habe, während er Neema einen Vorschuss gab, damit sie bei den Schneidern in den Feldern des Hügellands oben ein neues Kleid und eine saubere Schürze kaufen konnte.
Egal, wie die Geschäfte in Süderstade heute laufen würden, das Gasthaus würde mit Sicherheit heute Abend mal wieder übervoll sein !

Selbst Amtmann Horatio Weissross kümmerte sich diesmal die Ankunft des Schiffes und schickte die Wachen von Süderstade aus, um den Strand weitläufig von Murlocs und anderem Gezücht zu reinigen.

Rhea sass auf ihrem Lieblings-Felsen, blickte auf das Meer hinaus und beobachtete das sich nähernde Schiff. Sie hielt ihre angezogenen Knie mit den Armen umschlungen und stützte ihr Kinn darauf. Ein paar Augenblicke lang träumte sie davon, bei Nacht und Nebel auf das Schiff zu schleichen, sich im Dunkel seiner Lagerräume unten zu verstecken, irgendwann auf hoher See entdeckt zu werden und in den Dienst des Kapitäns zu treten, um die Passage ins Nirgendwo abzuarbeiten… Sie könnte die Segel flicken, oder die Ruderriemen, die Fischkörbe, die Netze, Seile drehen, kochen, das Deck schrubben, die Latrinen…

Beim letzten Gedanken endete der Traum abrupt. Vom Strand unten drang plötzlich Geschrei zu ihr hinauf. Neugierig lehnte sie sich nach vorne und spähte über die Klippe hinab, doch es war schon alles vorbei. Sie sah gerade noch, wie eine der Wachen den Körper eines toten Murlocs ins Meer hinaus warf. Der andere bückte sich, hob etwas auf, betrachtete es und zeigte es mit einem erstaunten Auflachen seinem Begleiter. Rhea konnte die Worte nicht verstehen, doch der Murloc schien etwas Interessantes bei sich gehabt zu haben. Die beiden Wachen entschieden zumindest, das Was-auch-immer mit zu nehmen und machten sich auf den Rückweg. Rhea beschloss, ebenfalls den Heimweg anzutreten, kletterte die Felswand wieder hinauf und nahm die Abkürzung durch den Tannenwald, der die Klippen säumte. Dass Rhea dabei ein Vogelnest entdeckte, unbedingt einen Blick hineinwerfen wollte und deshalb Süderstade doch einiges nach den beiden Wachen erreichte, war der Hauptgrund dafür, dass ihr der kurze Zwischenfall völlig entging…

Ron Malve, Darrens Vater, war ein Mann, der Stärke hoch schätzte, Gerechtigkeit aber noch höher. Er war insgeheim stolz auf seinen Sohn, der diese eine Bande anführte, war er doch einst selbst Mitglied einer ähnlichen Gruppe gewesen, wenn auch nicht in vorderster Position. Sein Sohn aber war nicht nur bei den stärksten und geachtetsten, er führte diese sogar an ! Auch wenn in den Familien allgemein wenig bis nichts über die verschiedenen Gruppierungen geredet wurde, wer als Wache in Süderstade unterwegs war, Augen und  Ohren UND ein Gehirn zum Denken hatte, der wusste über die Dinge, die im Dorf liefen, bescheid. Das war auch der Grund, warum Ron Malve über den Grund der Hänseleien, die Rhea Weidflecht entgegen gebracht wurden, hinreichend informiert war. Auch er war der Überzeugung gewesen, dass die kleine Weidflecht mal wieder eine ihrer Räubergeschichten zum Besten gegeben hatte, als sie vor drei Jahren behauptet hatte, die Bucht durchschwommen zu haben.

Bis heute. Bis das Schwert seines Begleiters die Tang-Halskette eines Murlocs, der sich zwischen den Felsen vergeblich vor der Patrouille versteckt hatte, durchtrennte, und der zerfledderte, halb aufgelöste Weidenstern, der eine Muschel in seiner Mitte hielt, mit rotem Leinenband umflochten war und wie ein viel zu grosser Talisman vor der Brust des Nervlings gebaumelt hatte, in den Sand gefallen war…

Als Ron Malve von seinem Rundgang zurück gekehrt war und seinen Dienst quittiert hatte, hatte er seinen Sohn Darren und dessen Freunde an den Steg von Süderstade gerufen, mit dem Auftrag, Rhea Weidflecht mit zu bringen. Leider hatte niemand die quirlige Herumtreiberin gefunden. Ron Malve wunderte das nicht, doch obwohl er den sinnlosen Zeitvertreib der Kleinen nicht gut hiess, präsentierte er den von ihr genau beschriebenen Weidenstern, als die wichtigsten Freunde seines Sohnes versammelt waren.

"Woher sollte dieser Wicht sein "Schmuckstück" haben, wenn nicht von genau dem Ort, von dem die kleine Weidflecht erzählt hatte ? Schaut euch das Band an, es ist ein wenig ausgebleicht, vom Salzwasser und der Zeit. – Und nun überlegt euch selbst, was das alles zu bedeuten hat. Es liegt an euch, diesen Tatsachen eine Gewichtung beizumessen und eure Konsequenzen daraus zu ziehen."

Mit diesen Worten überreichte Ron seinem Sohn Darren den Weidenstern, wandte sich um und machte sich auf den Weg zur Taverne.

Als Rhea eine Stunde später auf den Hof ihrer Eltern zu ging, war sie erstaunt, Darren Malven vor dem Haus herumlungern zu sehen. Nachdem dieser ihr allerdings die "Trophäe" gezeigt (wie sie später erfuhr, war er vom neuen Anführer der Gruppe dazu verurteilt worden), und ihr die Einladung zum Treffpunkt überreicht hatte, lachte sie hell auf.

"Danke. Behaltet eure Einladung. Ich weiss schon lange, in welchem Bau ihr euch versteckt, aber…. Danke, kein Interesse. Ich komme alleine recht gut klar."

Mit einem Augenzwinkern gab sie Darren das verschlossene Couvert zurück, knuffte kurz ihre Faust an seine Schulter, drehte sich um und betrat, noch immer lachend, das Haus. Nein, sie brauchte keine dieser Gruppen. Aber immerhin, sie war rehabilitiert !

 
Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei. (Nikos Kazantzakis)
Beitrag #1206 erstellt am: / Zuletzt geändert am:

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Als das Schiff anlegte, brandete das Leben am Steg hoch, Neuigkeiten wurden ausgetauscht, und die ersten Geschäfte wurden wortreich abgewickelt. Rhea beobachtete das bunte Treiben der Händler und Händlerinnen, das Feilschen, Palavern und Fabulieren, beim Versuch, sich gegenseitig über den Tisch zu ziehen. Am windigsten waren die Goblins. Die verdrehten dem unbedachten Kunden das Wort im Mund, doch nicht jeder Spass führte zu einem Geschäftsabschluss, und Rhea lachte einige Male leise in sich hinein. Sie hörte immer gerne zu, wenn die wildesten Geschichten aufgetischt wurden, und gab sich Mühe nichts verpassen, solange dies alles draussen stattfand. Später, als es dann zum Feiern und Verträge-Begiessen in die Taverne ging, wandte sich Rhea den Feldern zu und machte sich daran, die Weiden zu schneiden, wie ihr Vater sie am Morgen angewiesen hatte.

Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie erschrocken zusammen zuckte, als hinter ihr plötzlich eine keckernde Stimme ertönte…

"Sho allein hier draussen, Kleine, eh ? Alle shin' am Feiern und du mussh' arbeiten, häh ? Hehehe, armesh Dingchen… Willshte etwas Shpass ?"

Sie schnellte herum – und hätte dabei dem Goblin fast die Rum-Flasche aus der Hand geschlagen, die er ihr hinhielt. Er torkelte einen Schritt rückwärts und hob seinen verschleierten Blick.

"Nich sho hashtig, nich sho hashtig, kleines Dingchen ! Pass auf'n Rum auf, der'sh taushend Jahr' alt ! Der beshte, den'sh überhaupt gibt ! Willshte versuchen ?"
Die Flasche war nur noch knapp halb voll, und Rhea erkannte das Etikett sehr wohl. Es war der billigste Rum, der in der Taverne ausgeschenkt wurde. Billig, aber stark. Abwehrend nahm sie die Hände hoch und lehnte lachend ab.

"Nein, nein, besten Dank ! Trinkt den wertvollen Rum besser selbst, dann bereut Ihr es nicht. Ich bin hier bald fertig, dann geh ich wohl auch noch ein wenig feiern. Ladet mich dann bei Gastwirt Anderson auf einen Rum ein, wenn es Euch beliebt."

Augenzwinkernd wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, in der Hoffnung, dadurch das Interesse des Betrunkenen zu verlieren. Natürlich würde sie nicht in die Taverne gehen, selbst wenn sie wollte, Anderson würde sie hochkant rausschmeissen. Er war da sehr konsequent und duldete keine Jugendlichen in seiner Kneipe, nicht, solange sie nicht ihr eigenes Geld bei ihm ausgeben konnten. Das Geld der Väter wurde nur akzeptiert, wenn diese dabei sassen. Eine einfache, wirksame Strategie, die ihm bisher manchen Ärger erspart hatte.

Leider gehörte der Goblin zu der Sorte, die entweder etwas schwer von Begriff waren, oder aber zu sehr von sich überzeugt, vor allem unter dem Einfluss des Rums. Er kümmerte sich jedenfalls nicht um die Absage, trat näher und fasste nach Rheas Arm, um sie wieder zu sich herum zu drehen.

"Hey, Kleine ! 'Nem Grardo Flurrtrig lehnt man ein sho grosshzügig's Angebot nich' ab, vershtanden ?! Komm her und nimm einen Schluck, aber hop ! Wash glaubshte denn, werde bisht ?"

Rhea schüttelte die Hand angewidert ab und trat einen Schritt zurück. Noch einmal versuchte sie es mit oberflächlicher Freundlichkeit. In ihrem Magen aber begann es zu brodeln. Sie hoffte, dass der Goblin weder ihr bis zum Hals klopfendes Herz wahrnehmen konnte, noch, dass sich das Zittern in ihrem Inneren auf ihre Stimme übertrug. Sie schaffte es nur mühsam, ihre aufsteigende Wut zu unterdrücken.

"Hey, hey, immer langsam, war doch nicht bös gemeint. Schaut, Meister Flurrtrig, ich muss hier meine Arbeit erledigen, mein Meister kann sonst sehr böse werden, versteht Ihr ? Bitte, Meister Flurrtrig, Ihr wollt doch sicher nicht, dass ich Euretwegen Schwierigkeiten bekomme, nicht wahr ? In einer…." - "Willshte mir droh'n, he ?! Isht mir doch egal, ob dein Meishter böshe wird, der sholl nur kommen !" – "Nein, nein, er wird auf mich böse, nicht auf Euch…. In einer Stunde treffe ich Euch in der Taverne, dann… saufen wir, bis wir unter dem Tisch liegen, versprochen !"

Der Goblin kniff bei Rheas Worten die Augen zusammen und schnaubte abwertend. Sein Kinn glänzte vom Rum, der ihm beim letzten Ansetzen der Flasche mehr neben die fleischigen Lippen, als zwischen diese geronnen war.

"Dash'n Angebot ! Aber inner Shtunde bin'ch wieder nüchtern, dash macht keinen Shpass. Ich will, dassh du JETSHT mit mir shäufst hier. Wir brauchen auch ken Tisch, shum d'runter liegen… Hier, Schätzchen, nimm nen Schluck und entshpann dich… Komm, mach den Mund auf….. !"

Der stinkende Atem des Goblins stach in Rheas Nase und brannte auf ihrer Zunge, als sie zu einer weiteren Entgegnung ansetzte. Doch als der Wicht nach ihrem Hals griff, um sie zu sich hinunter zu ziehen und ihr die Rumflasche an den Mund zu drücken, siegte das Gemisch aus Wut, Abscheu und einem leichten Anflug von Panik in ihrem Inneren. Grob stiess sie ihre zu Fäusten geballten Hände nach vorne und schleuderte den Goblin von sich weg…

Was danach geschah, wusste Rhea später nicht mehr genau nachzuvollziehen. Sie erinnerte sich nur noch an das Gerangel, das Wegstossen – und an all das Blut, das den Boden zwischen den Weiden plötzlich tränkte. Das Röcheln des plötzlich sehr nüchtern wirkenden Goblins, sein entsetzter Gesichtsausdruck, mit dem er das tropfende Blut auf seiner Hand betrachtet, ehe er sie wieder auf die pulsierende Stelle an seinem Hals presste… Rhea wusste nicht mehr, wie lange alles gedauert hatte. Es kam ihr wie Stunden vor. Stunden, in denen sie gelähmt vor Entsetzen nur da stand und das blutverschmierte Weidenmesser in ihrer Hand starrte, das sie bei ihrer Reaktion völlig vergessen hatte…

Lange nachdem der Goblin endlich ruhig war, tauchte Rhea aus ihrer Schreckensstarre auf. Für einen Moment blickte sie mit leerem Gesichtsausdruck auf den Toten und überlegte fieberhaft. Dann wischte sie entschlossen das Messer am Gras sauber, packte die Weste des Goblins und schleifte ihn zum Fluss. Das Schmelzwasser hatte ihn schon hoch ansteigen lassen, noch ein, zwei Regentage, dann würde er das Feld der Weidflechts wieder überschwemmen, wie so oft. Rhea schob den Körper ins Wasser und stiess ihn mit den Füssen an. Sie stürzte, als die Strömung den Goblin erfasste und mit sich riss, fiel auf die Knie und tauchte beim Abstützen bis zu den Schultern ein. Kalt spritzte das Wasser in ihr Gesicht, und sie keuchte kurz auf. Rasch erhob sie sich und trat wieder ans Ufer. Der Blick zurück zeigte ihr den leeren, schäumenden Fluss…

Rhea ging zu den Weiden zurück und arbeitete mechanisch weiter. Sie merkte nicht, wie sich die immer stärker werdenden Regentropfen mit ihren Tränen mischten, auch nicht, wie sich rötliche Pfützen auf dem von Blut aufgeweichten Boden bildeten, immer heller wurden und schliesslich in sumpfbraun übergingen. Sie merkte nicht einmal, dass sie weinte. Stunden vergingen, die Dämmerung kam unter den Wolken früh, und irgendwann sah Rhea die Hand nicht mehr vor Augen. Langsam machte sie sich auf den Heimweg. Ihre Kleidung war vom Regen durchnässt, schmutzverschmiert, kalt und klamm. Sie war froh, dass niemand auf dem Hof war, als sie hinein schlich. Erschöpft fiel sie in einen tiefen, traumschweren Schlaf…


Am nächsten Tag wurde der als Säufer bekannte goblinische Händlergehilfe vermisst, doch kein Suchtrupp fand ihn. Als er bis zur Abreise des Schiffes noch immer nicht aufgetaucht war, kamen verschiedene Vermutungen auf… vielleicht war er einem Bärenangriff zum Opfer gefallen, oder in die Höhle der Yetis verschleppt worden, vielleicht war er auch dem Syndikat in die Quere gekommen…

Rheas Blick schweifte, wann immer sie draussen war, immer wieder zur Mündung des Flusses. Irgendwann würde der Körper des Goblins auftauchen, dessen war sie sich sicher. Er würde an den Strand gespült werden, und alle würden die Wunde an seinem Hals sehen und wissen, dass dafür nur ein Weidenmesser in Frage kam. Sie würden sie holen und in den Kerker werfen…

Immer wieder zog es sie zu den Weiden hinauf, immer wieder ging sie das Ufer des Flusses ab, selbst im darauf folgenden, ausserordentlich kalten Winter, als Eis das Ufer des Flusses und des Strandes bedeckte. Doch nichts war so kalt, wie die nackte Angst in ihrem Inneren, die sie für Jahre im Griff hielt.

 
Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei. (Nikos Kazantzakis)
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